Sechs Schüsse, kein Schuldiger
„Einpfeffern. Das volle Programm“
Vor über zwei Jahren eskalierte ein Polizeieinsatz in der Dortmunder Nordstadt. Der 16-jährige Mouhamed Dramé, ein Geflüchteter aus dem Senegal, saß in einer Nische seiner Jugendeinrichtung und hielt ein Messer an seinen Bauch – offenbar mit der Absicht, sich das Leben zu nehmen. Betreuer alarmierten die Polizei, die jedoch erfolglos versuchte, mit dem Jugendlichen zu sprechen. Insgesamt waren zwölf Polizisten im Einsatz. Schließlich gab der Einsatzleiter den Befehl, Dramé mit Pfefferspray anzugreifen.
Die Polizistin traf ihn mit dem Spray, woraufhin sich Dramé erhob und in Richtung der Beamten bewegte – offenbar sein einziger Fluchtweg. Zwei Polizisten feuerten daraufhin mit Tasern, ein dritter mit einer Maschinenpistole. Sechs Schüsse wurden abgegeben, fünf davon trafen Dramé. Er starb später im Krankenhaus.
Dies ist die Kurzfassung der Ereignisse. Danach begannen die Ermittlungen: Die Ermittlungsakte wuchs auf etwa 2.500 Seiten an, und es wurde Anklage gegen fünf Polizeikräfte erhoben: den Einsatzleiter, die Polizistin mit dem Pfefferspray, die beiden Polizisten, die die Taser einsetzten, und den Beamten, der geschossen hatte. Die Vorwürfe reichen von gefährlicher Körperverletzung bis hin zu Totschlag.
Zeugen beschrieben im Kern immer wieder den gleichen Ablauf: Das Eintreffen der Polizei, Mouhamed, der mit einem Messer auf seinen Bauch gerichtet nahezu bewegungslos in der Nische saß, und die vergeblichen Versuche der Beamten, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Schließlich schilderten sie, wie sich die Polizisten positionierten und der Einsatzleiter den Befehl gab: „Einpfeffern. Das volle Programm.“
Kampf verloren
William Dountio, Mitorganisator der Demonstration am Samstag, erklärte „Das ist sehr emotional nach der Urteilsverkündung hier mit Sidy und Lassana Dramé zu stehen“. Die Brüder von Mouhamed flogen im Januar nach Deutschland, um den Prozess mitzuverfolgen. Die Demonstranten reagierten fassungslos auf das Urteil und machten ihren Unmut auf der Straße sichtbar. Überall auf der Demonstration war der Slogan „Justice for Mouhamed“, also „Gerechtigkeit für Mouhamed“, zu sehen – auf Bannern und Plakaten, in den Redebeiträgen sowie in den Sprechchören der Teilnehmenden. Der älteste Bruder Sidy hat laut Angaben von WDR während der Verkündung geweint. „Wir haben den Kampf verloren“, sagt er im Gespräch mit dem Sender. Er schäme sich für das Urteil des Richters: „Das soll Gerechtigkeit sein?“
Subjektives Gerechtigkeitsempfinden – Revision?
Bereits in seinem Plädoyer hatte der Oberstaatsanwalt darauf hingewiesen, dass nicht jeder den Ausgang des Verfahrens als gerecht empfinden würde – unabhängig vom konkreten Urteil. Das Empfinden von Gerechtigkeit sei zu subjektiv. Heißt es nach Angaben von MiGAZIN. Auch die Staatsanwaltschaft wolle nun sorgfältig prüfen, ob sie das Urteil akzeptieren oder Revision einlegen werde.
Ein Punkt, den er jedoch schon jetzt betonen wollte, war die Bedeutung des Verfahrens: Es sei entscheidend, dass die Ereignisse rund um den tragischen Tod von Mouhamed Dramé in einem öffentlichen und rechtsstaatlichen Verfahren behandelt wurden, und genau das sei hier der Fall gewesen.
Das Urteil ist jedoch noch nicht rechtskräftig. Sowohl die Nebenklage als auch die Staatsanwaltschaft erwägen, Rechtsmittel einzulegen. Eine Revision vor dem Bundesgerichtshof ist noch möglich.
Alexandra Enciu