Achille Mbembe: „Postkolonialer Antisemit“? Geht das überhaupt?
Eine Reflexion darüber, welche grundsätzlichen Fragen der Fall Mbembe aufwirft, und über die Zukunft der postkolonialen Studien.
Achille Mbembe, einer der weltweit renommiertesten Denker der postkolonialen Theorie, wird unter Antisemitismusverdacht gestellt. Kann man sowohl dem Postkolonialismus als auch dem Antisemitismus angehören? Schließen sich diese beiden Strömungen nicht gegenseitig aus?
Die Grundlage meiner Betrachtung ist die Idee, dass der Postkolonialismus im Prinzip ein Humanismus ist. Er ist mit dem Schicksal allen menschlichen Lebens solidarisch. Wie könnte sich das postkoloniale Subjekt anders definieren, jenes, das die unauslöschlichen Spuren der kolonialen Tragödie in seinem Fleisch trägt? Wenn es sich an seine Vergangenheit erinnert, sieht es in der Ermordung eines Arabers, eines Atheisten, eines Juden, eines Christen oder eines anderen Menschen ein Abbild der Tragödie, die es selbst erlebt hat. Für das postkoloniale Subjekt war diese Tragödie nicht die eines bestimmten Volkes. Sie ist vielmehr von universeller Dimension und gehört zum kollektiven Gedächtnis der Menschheit. Jeder Mensch, der sich an die Kolonialgeschichte erinnert, soll sagen können: »Nie wieder!« Gerade deshalb ist die Idee, der Postkolonialismus könne zugleich ein Antisemitismus sein, nicht nur ein prinzipieller Widerspruch, sondern auch barer Unsinn.
Der Postkolonialismus kann kein Antisemitismus sein, ohne seine Bedeutung, Legitimität und Glaubwürdigkeit zu verlieren. Während der Antisemitismus den Hass fördert, tritt der Postkolonialismus in einen Dialog mit der Menschheitsgeschichte im Allgemeinen und mit jeder menschlichen Tragödie im Besonderen. Er versucht, durch seine Analysen die Menschheit aus rassischen Herrschaftsstrukturen und aus dem Hass auf Andere herauszuführen. Er stellt die Frage: Was bedeutet es, auf dieser Erde zu existieren, wenn man in einer Situation der Unterlegenheit lebt, wenn die eigenen Grundrechte verletzt werden, wenn man nicht mehr essen, trinken, ein Grundstück haben oder eine Hütte bauen kann? Was bedeutet es, wenn in einer Demokratie die Menschen nicht mehr ohne Waffen diskutieren können, wenn Vernunft obsolet wird, wenn der Respekt und die Toleranz sowie die Akzeptanz religiöser und kultureller Unterschiede verschwunden sind?
Aus der Schilderung der Prämissen ziehen wir folgenden Schluss: Der geringste Nachweis von Antisemitismus, den man in den Schriften des kamerunischen Philosophen Achille Mbembe feststellt, würde ipso facto seine Ansichten über den Postkolonialismus, das gegenwärtige Gesicht des Humanismus, ausschließen. Aber ist Achille Mbembe ein Antisemit, wie seine Inquisitoren behaupten? Mbembe hat auf die Vorwürfe, die an ihn gerichtet wurden, geantwortet. Er äußert sich in der Ausgabe der Zeit vom 22. April 2020 wie folgt: »Alles, was ich je geschrieben oder gesagt habe, ruht auf einem einzigen Fundament, nämlich der Hoffnung auf die Herausbildung einer wirklich universellen menschlichen Gemeinschaft, von deren Tisch niemand ausgeschlossen wird. […] Ihre Vorwürfe gegen mich sind unbegründet.«
Ob Mbembes Argumente zu seiner Verteidigung berechtigt sind oder nicht, wird uns die künftige Debatte zeigen. Ein Problem bleibt jedoch bestehen. Wie erklärt man das Schweigen der postkolonialen Wissenschaftler während dieses Aufruhrs? »Sie haben ein Recht auf Schweigen, kann man sagen. Lassen Sie den Angeklagten sich selbst verteidigen.« Das stimmt, zwar hat jeder Mensch ein bedingungsloses Zurückbehaltungsrecht, aber sind Wissenschaftler nicht gerade eine Ausnahme dieser Regel? Sind sie nicht aufgrund ihres Status ihren Mitbürgern ein hohes Maß an Verantwortung hinsichtlich der kontroversen Aushandlung von Wissen schuldig? Wenn sie schweigen, wer wird sprechen? Was, wenn das wirkliche Opfer in diesem Fall die postkolonialen Studien sind? Wie treten wir an die postkolonialen Studien in Deutschland heran, nach dem, was man heute den „Fall Mbembe“ nennen kann?
Eines ist sicher: Es wird ein vor und nach Mbembe geben. Wo und wie dieser Wendepunkt beginnt und in welche Richtungen er uns führen wird, bleibt vorerst offen. Vielleicht ebnet sich ein Weg für ein echtes »Aggiornamento« der postkolonialen Studien in Deutschland? Wir werden nicht mehr in der Lage sein, bestimmten Fragen auszuweichen. Zum Beispiel: Welche Bedeutung sollte der deutschen Kolonialgeschichte beigemessen werden? Was bedeutet diese Geschichte angesichts des gemeinsamen weltweiten Strebens der Menschen nach Anerkennung ihrer jeweiligen Rechte auf gleiche Freiheit, gegenseitigen Respekt und Würde über ihre Herkunft und »Identität« hinaus? Zwar wurden erhebliche Anstrengungen unternommen, um geschehenen Verbrechen zu erinnern und zu gedenken. Aber geben wir es zu, es ist noch viel Reparation zu leisten. Und wer wird reparieren, wenn nicht jene, die die immanenten Logiken von Macht und Herrschaft in Frage stellen, die unter den Ruinen der Geschichte lauern?
Der Zweck der Rückkehr in die koloniale Geschichte besteht nicht darin, über die Wunden der Vergangenheit zu brüten. Zwischen resigniertem Schweigen und blinder Gewalt soll sie einen alternativen Weg zu einem friedlichen Dialog öffnen. Nicht um den Anderen davon zu überzeugen, dass er sich irrt, sondern um die Gegenwart und die Zukunft zu reparieren. Die Reparation ist die Möglichkeit, in der gemeinsamen Geschichte einen rationalen Sinn zu finden. Es ist weder ein Preis, der zu zahlen ist, noch eine Schuld, die zurückgezahlt werden muss. Es geht darum, dort Sinn zu schaffen, wo die Tragödie der Geschichte heute Chaos verursacht. Die grundsätzliche Frage ist, ob eine gemeinsame Welt heute noch möglich ist. Das Ziel ist es, für die gesamte Menschheit einen Raum der Freiheit zu schaffen, der sowohl dauerhaft als auch gerecht ist. Ich lade daher die »Spezialist*innen« dieser Art von Denken ein, endlich das Wort in einer Debatte zu ergreifen, die, wenn sie nicht ausreichend geführt wird, sich zu einer Hexenjagd entwickeln kann.
Korassi Téwéché
Dieser Beitrag wurde ursprünglich in unserem gedruckten Februar/März 2021-Ausgabe veröffentlicht.