Das kalkulierte Sterben
Zur Unterstützung der Rebellen im Krieg gegen den Machthaber Muammar Gaddafi kreuzt die Kriegsflotte der NATO mit über 50 Schiffen und dutzenden Helikoptern in dieser Region. Dennoch sterben in der fünfzehntägigen Irrfahrt des manövrierunfähigen Bootes 62 Flüchtlinge aus Äthiopien, Eritrea, Nigeria, Ghana und dem Sudan.
Nach über einem Jahr hat eine Untersuchungskommission des Europarates nun den Abschlussbericht zu dem Tod der Flüchtlinge vorgelegt. In selten bisher dagewesener Deutlichkeit führt er die Gleichgültigkeit der Verantwortlichen gegenüber dem Leid der Bootsflüchtlinge aus Afrika vor Augen. Der offizielle Bericht des Europarates, welcher auch Anlass einer weiteren Untersuchung unter dem Titel „Verlorene Leben auf dem Mittelmeer – wer trägt die Verantwortung?“ war, beschreibt in trockenen Worten das Drama der 72 Menschen an Bord des Schiffes.
Als der Kapitän des Bootes den Pfarrer der äthiopischen Gemeinde in Italien anruft, und dieser die Küstenwache kontaktiert, befinden sich zwei Schiffe des NATO-Verbandes in unmittelbarer Nähe des Bootes, doch weder die Mendez Nunez noch die ITS Brosini reagieren auf den Funkspruch. Stattdessen erscheint kurz darauf ein Helikopter über dem Boot, wirft Kekse und Wasser ab, filmt und schießt Fotos um anschließend wieder zu verschwinden. Nach zehn Tagen kommt das Boot in die Nähe eines großen Kriegsschiffs. Wieder wird eine Zeit lang beobachtet, gefilmt und Fotos werden geschossen; eine Hilfeleistung erfolgt hingegen nicht. Während die Flüchtlinge davon berichten, den Matrosen die zu diesem Zeitpunkt bereits schon verstorbenen Säuglinge entgegengehalten zu haben, kann die NATO bis heute keine Angaben zur Sichtung eines Flüchtlingsbootes machen. Nach weiteren fünf Tagen strandet das Boot mit nur zehn Überlebenden an der libyschen Küste. Sofort werden sie festgenommen, eine Frau stirb an mangelnder medizinischer Behandlung Als Schwarze stehen sie in dem Konflikt im Verdacht, Schergen Gaddafis zu sein.
Bei ihren Recherchen stieß Tineke Strik immer wieder auf überraschende Wissenslücken, nicht aufklärbare Zuständigkeiten und offen zur Schau gestellten Unwillen zu Kooperation. Der Europaratssenatorin wird mitgeteilt, es existiere kein Satellitenbild des Seegebiets in dem Zeitraum, wiederholt werden ihr Auskünfte zur Positionierung von Schiffen verweigert. Zwar gelingt es ihr aufgrund dessen kaum, die Verantwortlichen genau zu benennen, dennoch fällt die Bilanz ihres Ermittlungsberichtes für die NATO Verantwortlichen eindeutig vernichtend aus. So besteht nach internationalem Seefahrtrecht für umliegende Schiffe die Verpflichtung, in Seenot geratenen zur Hilfe zu eilen. Dies sei nachweislich trotz des von der Leitstelle der Streitkräfte, an die Kriegsschiffe weitergeleiteten Notrufes und dem Wissen über die genaue Position des Flüchtlingsbootes nicht geschehen, so das abschließende Urteil des Berichts. Der Tod der 62 Insassen läge folglich zu weiten Teilen in der Verantwortung der NATO Seestreitkräfte.
Trotz des eindeutigen Befundes von offizieller Seite drohen diesen wohl keine rechtlichen Konsequenzen. Sowohl die NATO als auch die italienische Küstenwache weist darauf hin, dass der Notruf aus libyschen Hoheitsgewässern abgesetzt worden sei, folglich die Verantwortung bei den dortigen Behörden läge. Angesichts der Tatsache, dass die NATO das Seegebiet in Strategiekarten als unter ihrer Kontrolle vermerkt hat, sowie das zu diesem Zeitpunkt aus dem Kriegsgebiet wohl kaum mit einer Seenotrettung zu rechnen war, ist dies wohl kaum haltbar.
So reiht sich der vermeidbare Tod der 62 Bootsinsassen in die erschreckende Bilanz von schätzungsweise über 15 000 Flüchtlingen ein, die im Mittelmeer innerhalb der letzten 25 Jahre ihr Leben gelassen haben. Ihr zumeist qualvolles Sterben ist längst Teil einer offensichtlich allzu bereitwillig akzeptierten Migrationsrealität der europäischen Wertegemeinschaft geworden.
Eric Steinsberger