Die Frauen: die Vergessenen der Unabhängigkeitskämpfe
„Gesang für die Verlorenen (Peter Hammer Verlag) war 2018 die dritte Publikation der kamerunischen Autorin Hemley Boum. In diesem mit mehreren literarischen Preisen ausgezeichneten Roman inszeniert Boum eine Seite der Geschichte Kameruns, die bis heute tabuisiert wird: der Kampf von Um Nyobe (1913-1958) für eine volle Unabhängigkeit (vgl. S.22). In einem Interview mit lafriquedesidees.org erklärt sie, dass das Gewicht des Unausgesprochenen bzw. des Schweigens zu solch schwerwiegenden Tatsachen und Angriffen auf die Bevölkerung eines Landes ein weit verbreitetes, aber sehr reales Gefühl der Scham provoziere. Und dass auf den Zeitraum von den 50er bis zu den 70er Jahren in Kamerun ein Mantel aus Gewalt und Angst gelegt worden sei. Die dazwischen liegenden Ereignisse bezeichnen viele Historiker*innen heutzutage als einen Genozid, den die französische und die kamerunische Regierung des neu unabhängig gewordenen Landes an den Mitgliedern der Unabhängigkeitsbewegung der Partei Union des Populations du Cameroun (UPC- Union der Bevölkerungen Kameruns) und besonders an den Bassa und Bamileke (zwei Völkergruppen Kameruns) verübten. Wie die Autorin zeigt, benötigte Um Nyobe, ihr Mpodol (der Sprecher), jede mögliche Unterstützung für den Erfolg seines Projekts einer vollständigen Unabhängigkeit Kameruns. Zu seinem engsten Kreis gehörten Frauen und Männer gleichermaßen. Die Rolle der Frauen in diesem Kampf stellt Boum durch verschiedene weibliche Protagonistinnen ihres Romans wie Esta, ihre Tochter Likak, die Schwester Marie-Bernard, Christine Manguele u.a. exemplarisch dar.
Esta: Die Löwin
Der Kolonialismus ist das Synonym aller Arten von Gewalt (politisch, wirtschaftlich, militärisch und psychologisch). Achille Mbembe zufolge bedeutete der Kolonialismus eine volle Kontrolle des Lebens bzw. der Körper, der Bewegungen, des Denkens und des Glaubens der Unterdrückten. Die Kolonisten waren in diesem Sinne Eigentümer der Kolonialisierten, und so benimmt sich Pierre Le Gall (genannt „der Löwe“) in diesem Roman. Direkt nach seiner Ankunft in Eseka erwachen seine pädophilen Instinkte, und sofort fängt er an, seine Machtposition zu nutzen, um junge Mädchen zu vergewaltigen. Folgen seiner Jungfrauenjagd sind Abtreibungen und Misch-Babys in der Region. Esta, seine Tochter (genannt „die Löwin“), schließt eine ganze Region zusammen, um die Mädchen vor Le Gall‘s sexuellem Appetit zu schützen. Sie isoliert ihren Vater und lässt ihn mit dem Durst seiner Libido im Wahnsinn versinken. Le Gall, der eine ganze Region terrorisiert, wird von einer Frau besiegt, und zwar seiner eigenen Tochter. In einem ultimativen Kampf, sowohl physisch als auch mystisch, verlieren die Löwin ihr Leben und der Löwe seinen Verstand. Ihr Tod gilt als höchster Preis für die Befreiung, damit die anderen Frauen frei leben können. Esta vereint in sich die Kraft, das Engagement und die Verantwortung für die Sache der Unabhängigwerdung.
Der Ko‘o
Auch andere weibliche Figuren zeigen ihre Kraft. Die Ordensschwester Marie-Bernard, die sich gegen ihre religiöse Ordnung stellt, um die Unabhängigkeitskämpfer*innen zu unterstützen, und dadurch nach Frankreich zurückgeschickt wird, stellt sich gegen die Komplizenschaft der katholischen Kirche im Rahmen des Kolonialismus. Likak, eine der engsten Vertrauten im Rat Um Nyobes, ist wahrscheinlich die Figur, die den höchsten Preis für ihr Engagement bezahlt, indem sie alle für sie wichtigen Menschen im Kampf gegen den Kolonialismus verliert. In diesem Roman handeln die Frauen gemeinschaftlich gegen das Kolonialsystem. Sie zeigen sich solidarisch, unterstützen sich gegenseitig und schützen sich vor potentiellen Gefahren. Der Ko’o, die Geheimgesellschaft der Frauen bei den Bassa, stellt die mystische und soziale Macht bzw. Anerkennung der Frauen in der Bassa-Gesellschaft dar.
Eine dauerhaft diskriminierende Tradition
Die Frauen der Unabhängigkeiten sind nicht die ersten Frauen, die die Geschichte (nicht nur in Afrika) absichtlich „vergessen‘‘ hat. Sie gehören zu einer Tradition der Geschichtsschreibung, die nur die Männer anerkennt. Dementsprechend meint der französische Historiker Pierre Singaravelou, dass die Geschichte der Entkolonialisierung eine Geschichte wie jede andere sei, d.h. sie wurde bis zum 20. Jahrhundert von den Sieger*innen und von den Männern geschrieben. So kann man verstehen, warum man z.B. von den „Unabhängigkeitsvätern“ spricht. Sowohl in Kamerun als auch anderen Ländern Afrikas sind die Frauen nicht so präsent in den Büchern, obwohl sie stets eine zentrale Rolle in den Machtstrukturen der afrikanischen Gesellschaften gespielt haben. In den Vordergrund der Unabhängigkeitsbewegungen stellten sich Männer, aber das bedeutet nicht, dass die Frauen keine Rolle hier gespielt haben. Wie die anderen Um Nyobe-Nachfolger*innen muss die Geschichte die Frauen, die ihr Leben und ihre Familien für ihr politisches Engagement riskiert haben, benennen und offiziell anerkennen.
Dieser Roman zeigt wie viele andere die zentrale Bedeutung der Frauen innerhalb der Widerstandsbewegungen in Afrika. „Sie wollten uns glauben lassen, dass eine Hälfte der Menschheit schweigend, untätig, transparent geblieben wäre, während die andere Hälfte damit beschäftigt war, zu kämpfen, zu lenken, aufzubauen, zu schützen!“, so Sylvia Serbin in ihrem Buch „Königinnen Afrikas“. Es ist Zeit für eine Neuschreibung der Geschichte der Unabhängigkeiten. In diesem Sinne gilt Boums Gesang für die Verlorenen als eine Ode zum Gedenken an die vergessenen Frauen der Unabhängigkeitskämpfe.
Landry Ngassa
Der Beitrag wurde ursprünglich in unserer gedruckten Oktober/November 2020-Ausgabe veröffentlicht.