Kommentar: Krieg in der Ukraine – Mehr als 100 Tage danach

Kommentar: Krieg in der Ukraine – Mehr als 100 Tage danach

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Frau Dr. Herzberger-Fofana bei einer Kundgebung in Erlangen am 16. Juli. © Dr. Herzberger-Fofana
Frau Dr. Herzberger-Fofana bei einer Kundgebung in Erlangen am 16. Juli. © Dr. Herzberger-Fofana

Der Angriffskrieg Russlands sorgte für eine plötzliche Getreideblockade, die die Ernährungssicherheit weltweit bedroht. Trotz der Unterzeichnung des Getreideabkommens zwischen Russland und der Ukraine unter Vermittlung der Türkei und den USA sind die Sorgen weiterhin groß.

Wenige hundert Kilometer von uns geht unsäglich Schreckliches vor sich. Aggressives Verhalten scheint dem Menschen leider innezuwohnen und dennoch ist Krieg etwas grundsätzlich Unmenschliches, er entbehrt jeder gerechten Ordnung, auf die wir aufgrund unserer universellen Menschenrechte jederzeit Anspruch haben. Auch haben wir ein Recht darauf, dass internationale Regeln im Rahmen des Völkerrechts, wie in der Charta der Vereinten Nationen festgeschrieben, nicht gebrochen werden.

Die Mehrheit der Menschen in Europa sind mit dem Privileg aufgewachsen, Sicherheit für grundsätzlich gegeben zu wissen. Dieses Privileg haben auch viele, vor allem junge Ukrainer*innen und ihre Gäste, zahlreiche ausländische Studierende und Beschäftigte, genießen dürfen oder waren auf dem Weg dahin.

Als das Land 2004 mit der Orangenen Revolution begann, sich zu demokratisieren, die verkrusteten Systeme der Oligarchen aufzubrechen und die Gesellschaft zu liberalisieren, da erlebten viele Menschen der ehemaligen Sowjetrepublik das erste Mal etwas wie wirkliche Freiheit.

„Diese Tatsache, persönliche Freiheit erst teuer gewonnen zu haben, um ihrer dann entrissen zu werden, ist eine der vielen grausamen Wendungen der jüngeren ukrainischen Geschichte.“

Als die ersten Meldungen der russischen Invasion am 24. Februar über die Bildschirme liefen, da habe ich, wie wahrscheinlich viele andere, nicht daran geglaubt, dass sich die souveräne Ukraine hundert Tage später immer noch gegen Russland zur Wehr setzen würde. Wir dürfen, wir müssen weiterhin hoffen, dass der Frieden in dieser Region wieder herrschen wird.

Es ist äußerst schmerzlich anzuerkennen, dass die Unterstützung der Ukraine durch schwere Waffen derzeit nötig ist, um perspektivisch an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Krieg darf, wenn überhaupt, die letzte mögliche Lösung sein, um Menschenleben zu schützen.

Krisen bieten immer auch Möglichkeiten. Gefühlt hat der Krieg uns in Europa wieder näher zusammengebracht. Er zeigt uns auch in aller Deutlichkeit die Verwobenheit unserer globalen Gemeinschaft, die wir als Menschen letztlich darstellen. Wir sind voneinander abhängige Wesen. Wir leben nicht autonom. Verbundenheit zu erkennen, Verbindungen aufrecht zu erhalten, aber auch: politische Handlungen einzufordern, dies ist, was die Zivilgesellschaft in Demokratien unter anderem beitragen kann, wenn es um Friedensprozesse geht.

„Ein künftiges Zusammenstehen wird mitunter darüber entscheiden, wie sehr wir die Auswirkungen des Krieges als europäische, aber eben auch als Weltgemeinschaft abfedern können.“

Niemand darf dabei zurückbleiben, wir müssen allumfassend denken und handeln. Wir müssen daran arbeiten, Integration geflüchteter Menschen auf Augenhöhe zu betreiben. Wir müssen daran arbeiten, die Grundwerte der Europäischen Union auszubuchstabieren und die Rechtsstaatlichkeit aller Mitgliedsstaaten konsequent zu überprüfen. Wir müssen die Kinder der russischen Diaspora mitdenken, die auf Pausenhöfen mit Putin in einen Topf geworfen und diskriminiert und attackiert werden. Wir müssen die Kinder in afrikanischen Krisengebieten mitdenken, die aufgrund ausbleibender Getreidelieferungen lebensbedrohlichem Hunger ausgesetzt sind.

Als Vize-Präsidentin des Entwicklungsausschusses mit dem Schwerpunkt Ernährungssicherheit beschäftigte ich mich intensiv mit der Lage unserer Partnerländer in Afrika, besonders in der Sahelzone.

Vor dem Krieg kam rund ein Drittel der weltweiten Weizenexporte aus Russland und der Ukraine. Viele Länder des afrikanischen Kontinents, vor allem Ägypten, Länder am Horn Afrikas und in Westafrika, sind zu großen Teilen von russischen und ukrainischen Exporten abhängig (gewesen). Nun ist es nicht verwunderlich, dass die Ukraine ihre Exportvolumen in diesen Zeiten nicht aufrechterhalten kann. Russland wiederum hat sich, mit dem klaren Ziel einer weiteren Eskalation der Lage, dazu entschieden, die eigenen Lebensmittelexporte einzuschränken. Die Hungerkrise, die damit beispielsweise in Somalia schon voll angekommen ist, droht sich in den kommenden Wochen und Monaten auszuweiten und zu einer der schlimmsten globalen Hungersnöte der letzten Jahrzehnte zu werden.

Es ist unsere Aufgabe, nicht nur auf die Versorgung der deutschen oder europäischen Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln zu achten. Es ist unsere Pflicht, auch ein Auge auf diejenigen zu haben, die aufgrund des durch reiche Regionen der Welt angeschobenen Klimawandels in den letzten Jahrzehnten in ihren Heimatregionen schon unsäglich gelitten haben.

In diesem Rahmen betrachtet sind es wieder Privilegien, mit denen wir uns als europäische Gemeinschaft in kommender Zeit auseinandersetzen müssen. Privilegien zu würdigen und entsprechend umsichtig zu handeln, Privilegien abzugeben und entsprechend solidarisch zu handeln. Es scheinen harte Monate auf uns zuzukommen: Inflation, höhere Energiekosten, mögliche Lieferengpässe bei Gütern des alltäglichen Lebens. All das sind Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen und die wir besser wegstecken werden, wenn wir miteinander in wohlwollender Verbindung bleiben.

Heute und hier spreche ich mich für ein freies und demokratisches Europa aus. Für ein Europa ohne Willkür, ohne sinnloses Gemetzel, ohne Krieg! Ein Europa des Friedens, die Welt als Ganzes im Blick.

 Dr. Pierrette Herzberger-Fofana (MdEP)